Im Bunker geboren, vom Leben enttäuscht und doch voller Lebensmut

Während des Kriegs im Bunker als Kind einer Arbeiterfamilie geboren, seit 60 Jahren krebskrank und von der Familie enttäuscht. Marlies Borchers hat wohl schon alles hinter sich, was man als Mensch durchleiden kann. Den Lebensmut lässt sie sich dennoch nicht nehmen, auch nicht nach der letzten, schweren OP, die für sie eine ungewöhnliche Entscheidung nach sich zog. Eine Entscheidung für das Leben.

84 Jahre ist Marlies Borchers alt. Die zierliche Frau mit den hellen, kurzen Haaren und den dunklen Augen sitzt auf ihrem Sofa in der gemütlichen kleinen Wohnung mit den vielen kleinen Elefanten-Figuren und erzählt ihre unglaubliche Lebensgeschichte, die einem schier die Sprache verschlägt. Es ist eine einzige Odyssee, die mitten im Zweiten Weltkrieg in Paderborn in einem Luftschutzbunker beginnt. Während eines Luftangriffs kommt das Mädchen zur Welt. Der Vater im Krieg, die Mutter, die sich irgendwie mit drei Kindern, den zwei Brüdern von Marlies und dem Säugling durchschlägt. Bei Nonnen geht sie dann später zur Schule. „Das hat mich und meine Einstellung zum Leben schon geprägt,“ sagt sie. „Sie haben mich für das Leben vorbereitet.“ Das Leben, das noch so viel Schweres bereithält für die junge Frau.

Sie heiratet den Sohn eines Hotelbesitzers. Es ist keine glückliche Ehe. Die Schwiegermutter siezt sie bis ans Ende ihrer Tage und sorgt dafür, dass Marlies Borchers nicht nur viel zu arbeiten hat, sondern auch, dass ihr nichts erspart bleibt. Sie wird nie wirklich aufgenommen in der Familie. „Einmal habe ich mir in der Küche beide Arme verbrüht“, erinnert sie sich. Der Schwiegermutter ist es egal. Der eigene Vater hadert mit der Tochter, weil sie konvertierte und wegen der Heirat den Glauben wechselte. „Immer als der Krebs wieder zurückkam, sagte er mir, wärst halt nicht evangelisch geworden.“ 

Im Alter von nur 26 Jahren hat Marlies Borchers bereits vier Fehlgeburten hinter sich. Weil sich Tumore an der Gebärmutter gebildet haben, muss das Organ entfernt werden. Kurze Zeit danach werden auch die Eierstöcke operiert. Auch hier waren Metastasen entdeckt worden. Dann folgt der Umzug von Westfalen nach Bayern. Die junge Frau, die sich sehnlichst ein Kind wünscht, adoptiert gemeinsam mit ihrem Mann ein Mädchen. Die kleine Familie wünscht sich nur ein ruhiges, gemeinsames Leben.

Doch der Krebs lässt Marlies Borchers nicht in Ruhe. Wegen ihrer Nervosität geht sie erneut zum Arzt. Diagnostiziert wird Schilddrüsenkrebs. Bald danach muss der Magen teilweise entfernt werden. „Es ist vielleicht noch ein Drittel, das mir geblieben ist. Ich hatte nach der OP 40 Klammern im Bauch.“ Und ein Ende ist nicht abzusehen. Im Bauchraum hatten sich weitere Metastasen ausgebreitet, vor allem im Darm. Chemotherapie und lange Krankenaufenthalte folgen. Fast alle Lymphknoten – bis auf einige wenige – werden ihr entfernt. Trotz allem arbeitet Marlies Borchers, die heute zu 100 Prozent schwerbehindert eingestuft wird. „Damals hatte ich drei Putzstellen, um meiner Tochter das Studium zu ermöglichen.“ Dann die Diagnose Brustkrebs. Erneut wird operiert.

Weil sie schlecht Luft bekommt und immer wieder unter Atemnot leidet, wird Marlies Borchers ein Herzschrittmacher implantiert. Doch die leidenschaftliche Sammlerin von Elefantenfiguren gibt nicht auf. Als sie erneut im Bauchraum operiert werden muss, durchtrennt ein Chirurg ein Blutgefäß. Sie wird reanimiert. Notoperation. Erneute Reanimation. Als sie wieder zu sich kommt, sieht sie, dass eine Ärztin ihre Hand streichelt. Sie sagt: „Ich rufe jetzt ihre Tochter an. Sie waren tot, Frau Borchers.“ An die Nahtod-Erfahrung kann sich Marlies Borchers genau erinnern. „Alles um mich herum war sehr hell und ich habe fürchterlich geweint.“ Seit dieser Zeit leidet sie auch an Panikattacken, kann keine Menschenansammlungen mehr um sich haben. „Ein Konzertbesuch, das ist für mich unmöglich.“ Ganz abgesehen davon, dass schon damals nur noch kurze Wege mit Hilfe des Rollators möglich sind.

Und noch etwas ist mit ihr passiert. Marlies Borchers ist vorsichtiger geworden im Umgang mit Menschen. Noch vorsichtiger. „Ich habe wieder angefangen zu beten und von manchen Freunden habe ich mich getrennt.“ Zu ihrer Adoptivtochter hat sie seit sechs Jahren keinen Kontakt mehr. Bei Besuchen in Bayreuth habe sich alles nur um die Sterbeversicherung gedreht. „Aber ich lebe doch, habe ich erwidert.“

Vor 20 Jahren ist sie in ihre kleine Wohnung in der Karl-Marx-Straße in Bayreuth gezogen. Und dort bekam sie auch Kontakt zu Sabine Kraus, der Seniorenbegleiterin bei der Christuskirche, die sie seitdem immer wieder besucht und auch Unterstützung durch die Kurier-Stiftung „Menschen in Not“ organisierte. Meist gemeinsam mit Peaches, der Bolonka-Hündin, ihrer Türöffnerin, wie Sabine Kraus gerne betont. Und noch ein anderer Hund war Türöffner für die alleinstehende Frau. Der kleine Hund in der Nachbarswohnung. Als Marlies Borchers einen Drehschwindel erleidet und samt Porzellan-Blumenständer zu Boden stürzt, kratzt er so lange an der Tür, bis seine Besitzerin aufmerksam wird und in der Nachbarwohnung nachschaut. Wieder kommt Marlies Borchers ins Krankenhaus. Die Diagnose: Blasenkrebs. Niere und Darm waren ebenfalls befallen. „Das war eine meiner schwersten Operationen. Ich habe keine 40 Kilogramm mehr gewogen“. Nach sieben Stunden wird sie auf die Intensivstation gebracht.

Und wieder trifft sie danach eine Entscheidung für das Leben. „Ich werde nach meinem Tod als Körperspende für die Anatomie in Erlangen zur Verfügung stehen,“ erklärt sie. Körperspende heißt, dass eine Person zu Lebzeiten verfügt, nach dem Tod ihren Leichnam einem Anatomischen Institut zu Zwecken der medizinischen Forschung, Lehre und Weiterbildung zur Verfügung zu stellen. Und das hat Marlies Borchers jetzt veranlasst. „Ich habe in einem Filmbeitrag gesehen, wie wichtig das für die Forschung ist.“ Keine leichte Entscheidung, denn der Leichnam steht einige Jahre lang den Medizinern zur Verfügung. Beigesetzt wird sie dann – viel später – in einem Ehrengrab der Anatomie auf dem Zentralfriedhof in Erlangen. Zu der Feier werden die Angehörigen der Körperspender und die Studierenden eingeladen.

 

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